Schreiben des Dr. Heinrich Schleyer aus Bösingfeld an den Magistrat der Stadt Detmold am 30.09.1920

Vor einigen Wochen ereignete sich, wie ich leider erst kürzlich erfuhr, am Detmolder Lyzeum folgender Vorfall. Die jüdischen Schülerinnen der 2. Klasse, unter ihnen meine Tochter Lisbeth Schleyer, hatten sich durch schwer beleidigende Äußerungen antisemitischer Art von ihren christlichen Mitschülerinnen verletzt gefühlt und aus diesem Grunde bei dem Direktor Klage geführt. Unter den Bemerkungen der Schülerinnen hatten sich solche befunden: die Juden hätten kein Vaterland, sie trieben Wucher, verdienten in vollen Maße den Hass der Christen und ähnliche dem antisemitischen Phrasenschatze entnommene Redensarten. Der Direktor, anstatt die Klageführenden ruhig anzuhören, ihren Beschwerden auf den Grund zu gehen und, falls sie berechtigt waren, die Schuldigen zu bestrafen, wie es seine Pflicht gewesen wäre, suchte viel mehr diese nach Kräften zu entschuldigen. Er sagte u.a. zu den jüdischen Schülerinnen: sie könnten doch nicht in Abrede stellen, dass es unter den Juden viele Wucherer gäbe. Kein Wunder, dass sich die Kinder im Gefühle, bei ihrem Direktor  nicht nur keinen Schutz, sondern das gleiche Vorurteil und denselben Hass zu finden, wie bei ihren Mitschülerinnen, Verzweiflung bemächtigte und eines in Tränen ausbrach. Um eine richtige Vorstellung der Wirkung solcher Äußerungen wie der schon längere Zeit andauernden seelischen Misshandlung der jüdischen Kinder des Detmolder Lyzeums und ihrer Schutzlosigkeit zu gewinnen, möge das Kuratorium versuchen, sich in die Seele dieser weinenden Kinder zu versetzen. Es versetze sich weiter in die Seele eines Mannes, der sich, wie ich, seiner Zeit freiwillig zur Front gemeldet hatte, schwer verwundet wurde, der EK 2 und EK 1 nicht ganz unverdient empfangen zu haben glaubte und der jetzt nach allen mit Begeisterung dargebrachten Opfern solche widerwärtigen Erscheinungen erleben muss. Ich gestatte mir die Frage: Ist ein Mann, der so handelt, wie der Direktor des städtischen Lyzeums, seiner hohen Aufgabe, die Schüler gerecht und ohne Ansehung des Standes und Bekenntnisses zu behandeln, auch nur im entferntesten gewachsen? Und die weitere: Was gedenkt das Kuratorium zu tun, um endlich der seit längerer Zeit am Lyzeum betriebenen antisemitischen Hetze Halt zu gebieten und den jüdischen Eltern, die in diesen schweren Zeiten oft nur unter großen Opfern ihren Kindern den Besuch des Lyzeums ermöglichen zu können, genügend Sicherheit zu bieten, dass ihre Kinder vor Pöbeleien und ungerechter Behandlung geschützt werden.

Quelle: StA DT D 106 Detmold Nr. 2907